„Regine Hildebrandt: Ich sehe doch, was hier los ist“ von Hans-Dieter Schütt
Unterschiedlich hätten die zwei Lebenswege bis zum Jahr 1989 nicht verlaufen können, wie jener der Regine Hildebrandt und ihres Biographen Hans-Dieter Schütt. Sie, die Berlinerin aus dem Grenzgebiet der Bernauer Straße, er, der Kleinstädter aus dem Thüringischen Ohrdruf, wo es außer einer Bach Gedenkstätte und sehr viel Wald vor der Haustür, auch einen Truppenübungsplatz der Sowjetarmee gab. In jener Zeit, in der das Mädchen Regine zwischen dem Standort ihrer Schule im französischen Westen und dem Elternhaus im sowjetischen Osten pendelte, waren die Wege in Ohrdruf überschaubar gewesen. Hans-Dieter Schütt wird Mitglied der FDJ und schreibt nach dem Studium für die „Junge Welt“, der zentralen Zeitung der Organisation. Als Chefredakteur wird er sie leiten, nachdem er Genosse wurde.
Eine Karriere wie aus den Statuten, als deren Sprachrohr er sich entwickelte und zu deren Feinbildanalyse er entscheidend beitragen konnte. Denn in dieser Position fungierte er gleichzeitig als Abteilungsleiter, später als Sekretär, in der Kaderschmiede des Politbüros, nämlich dem Zentralrat der FDJ. Glänzende Aussichten, bis zum Jahr 1989 …
Regine Hildebrandt dagegen wächst in der Bernauer Strauße auf, wo die Grenze zwischen Ost und West entlang der Häuserfassaden verlief, in der Nachbarschaft der Versöhnungskirche zu deren Gemeinde sie bald gehört und deren Sprengung sie erlebt. Sie schließt für sich und ihre Familie eine nähere Bekanntschaft mit den politischen Organisationen des Staates aus. Als Biologin hält sie im Labor ihres Betriebes Augen und Ohren offen für die Fortschritte des Westens auf dem Gebiet der Insulinforschung. Sie sucht nach Anschlüssen, nach Kompatibilität mit den bescheidenen Mitteln des Ostens, um Diabetikern, den Kindern vor allem, das Leben zu erleichtern, unermüdlich, bis in den November 1989. Danach wird sich alles ändern. Aber bis dahin sind sie Gegner gewesen, stehen noch während der entscheidenden Tage und Nächte auf konträren Seiten.
Jetzt erst beginnt für den Verlierer Schütt eine Zeit ungewohnter Arbeit. Er will und muss verstehen, warum alles so gekommen ist, sucht nach den verborgenen Handlungssträngen, die er einst übersehen, die aber unerlässlich zum Konflikt und zur Zuspitzung des Dramas führten. Als studierter Theaterwissenschaftler und Dramaturg kennt er sich aus. Der Weg einer Kerze wird für ihn symbolisch, Regines Sohn hatte sie entzündet. Und sie strahlte von der Schwelle der Gethsemane Kirche, durch den U-Bahnschacht hindurch, an Polizeikordons vorbei, im Fenster der Familienwohnung in der Rosa-Luxemburg-Straße. So zeichnet sich das Ende einer Ära ab. Eine Scheindemokratie bricht zusammen. Menschen wie die Hildebrandts verlassen ihre geschützten Heime. Sie gehen auf die Straße, mischen sich ein, gründen Parteien, besuchen Versammlungen. Es ist der Beginn neuer Lebensläufe und Allianzen und es wird abgerechnet und wenig vergeben. Stets in der Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Hans-Dieter Schütt will helfen, mit dem was er kann, mit dem geschriebenen Wort. Das kurze Leben der Regine Hildebrandt wird so lebendig, ihre Kindheit, das Studium, die Hochzeit mit Jörg, dem Pfarrerssohn und die endgültige Teilung Berlins durch die Mauer. Der Bruder, der sich für den Westen entscheidet. Ihre Arbeit als Biologin. Er beschreibt die ambitionierte Fotografin, die Dokumentaristin, die leidenschaftliche Sängerin im Chor der Berliner Domkantorei und endlich den Eintritt in die SPD und in die Regierung jenes Kurzzeitkabinetts der Koalition mit der CDU.
Schütt erinnert an ihren Aufstieg zur beliebtesten Ministerin des Landes Brandenburg und er dokumentiert ihr Scheitern. Sie die Ruhelose, eher Mutter Courage, setzt sie ein zur Zukurzgekommene und Desillusionierte. Denn anders, als die vielzitierte Bühnenfigur, mit der man sie vergleicht, sieht sie „was hier los ist“. Sie ist eine Frau, eine Mutter und sie braucht ihre Familie. Es ist ein Leben auf der Überholspur. Sie wird dafür bezahlen und es ist nicht nur die Krebserkrankung, die sie aus der Bahn wirft. Schütt bleibt postum an ihrer Seite. Er schreibt von jenem Kleinen, das dem Großen auf die Sprünge helfen soll. Hier treffen sich ihre Intentionen und er wird mit sich selber Abrechnung halten. Bis dahin aber sind Regines Spuren längst den Weg alles Irdischen gegangen, jedoch nicht die Erzählung ihrer Geschichte. Diese Legende wird bleiben.