Warum leben wir so, wie wir leben, warum nicht anders?
Warum weigern wir vorgezeichnete Wege, Anforderungen, Erwartungen, wehren uns gegen die Erfahrungen unserer Eltern?
Täten wir es nicht, brächte uns das weiter? Das Aufgehobensein der Kindheit, in der Pubertät verachtet, Jahre später ersehnt in einer Hass-Liebe. Die Trennung von den Wurzeln und das Labyrinth des Zurückfindens. Vergangenheit, was wollen wir von ihr wissen und ab welchem Zeitpunkt? Das große Fragezeichen, tief im Inneren! Gefürchtet oder gehütet? Gesegnet? Zeit: Was macht sie mit uns? Irgendwann sehen wir anders aus. Aber ist das alles?
Und wo bleibt das alles im Gefüge des Alltäglichen?
Im Zuge neuen völkischen Deutschtums beschreibt der Roman den Konflikt zwischen Eltern und Großvater, den es wie aus dem Nichts seiner Berliner Buchhandlung in der norddeutschen Provinz der ehemaligen DDR verschlägt. Es geht um die Tochter, es geht um die Enkelin. Es geht um Hinterlassenschaft und Erbe. Und es geht darum, Leben zu erfahren, zu schauen, zu hören, zu denken. Denken! Es ist das Vermächtnis eines überforderten Vaters in seiner Funktion als Erster Sekretär der SED in Görlitz, der die eigene Tochter, die Mutter jener Enkelin den Erziehungsmethoden des Jugendwerkhofs in Torgau überließ. Und es ist zu gleich die Anmaßung des völkischen Möchte-gern-Bauern Björn, der diese verstörte Tochter von der Heroinnadel weg in seine deutsch-nationalen Phantasien holte, ihr Halt und die Illusion von Heimat und Familie bot.
Dem sie die Tochter, jene Enkelin gebahr und die als Kind einer solchen Familie von beiden Eltern gleichmaßen geliebt und erzogen wird, im Sinne einer neuen, gerechten Zeit, welche das Land einst prägen wird. Auch das Mädchen Sigrun wird daran arbeiten und sich für keine Entbehrung und Mühe zu schade sein.
Aber sie hatte andere Pläne, schon lange bevor der Berliner Großvater in ihr Leben getreten ist. Gerade in Berlin gibt es Gruppen von jungen Leuten, die sich nichts mehr gefallen lassen, die sich dem Kampf stellen und nicht stillhalten, benebelt durch die Idylle des Dorfes, den durchsichtigen Frieden des Elternhauses.
Doch der Großvater aus Berlin, den es nie zuvor gegeben, und der selbst viel verloren, weil er zu sehr liebte, anstatt zu überdenken, ist, ungeachtet seines Alters, wie ein widerkehrendes Gewitter mit Donner und Blitz auf und in diesem Plan getreten. Er greift nach der Hand und dem Herzen des Mädchens. Die Eltern stehen auf der anderen Seite. Die Sage vom Kreidekreis lehrt das Ende. Doch es ist nicht vorbei.
Wie im „Vorleser“ greift der Autor zu einer Metapher: So wie die NS-Verbrecherin Hanna Schmitz ihre Unfähigkeit Lesen und Schreiben zu können überwindet und jenen Weg zu sich selber findet, der lange verschüttet, lernt auch das Mädchen Sigrun durch die Musik und ihre wachsenden Fähigkeiten diese Intension für sich selbst am Klavier zu erleben, eine bis dahin verborgene andere Seite. Für Hanna Schmitz ist alles verloren, nachdem sie begriff, was sie getan hat. Ihr war nicht zu helfen.
Der Buchhändler-Großvater kannte dieses Schicksal.
Und Sigrun sollte er davor bewahren.
Ein sehr gelungener Nachmittag. Danke an Frau Pabst, die es versteht, den Zuhörer zu fesseln und in eine andere Welt versetzt. Immer ein besonderes Erlebnis.