Geschichte und Geschichten rund um den Stadtteil sind schon immer ein Garant für gute Veranstaltungen im Stadtteilladen Leutzsch gewesen. So auch an diesem Freitag, den 15. Juni 2018, als sich um 17:00 Uhr über ein Dutzend BesucherInnen trotz Fußball-WM dort einfanden, um den Stadtteil aus persönlich-literarischer und auch aus fotografischer Sicht wieder einmal neu zu entdecken.
Auf dem Programm stand die Vorstellung des zweiten Bandes von „Leutzsch.erlebt.erkundet.zugehört“ von Dr. Monika Kirst mit Bildern von Diplomgrafiker und Fotograf Peter Hartmann. Der erste Band hat bei seiner Erscheinung 2016 ordentlich für Furore gesorgt, wurde in der Leutzscher Buchhandlung der „Renner“ und ist bereits verlagsvergriffen. Das zeigt wie groß die Nachfrage nach Leutzscher Stadtteilgeschichte ist.
Der Einladung des BürgerVerein Leutzsch e. V. folgend, fanden sich Autorin und Fotograf zusammen mit Diplombibliothekarin Siegrid Müller, die das Gespräch moderierte und Passagen aus dem Buch vorlas, am Lesetisch im Stadtteilladen ein. Es war die fünfte Veranstaltung dieser Art seit Erscheinen des Buches im Dezember 2017. Frau Dr. Kirst und Peter Hartmann erzählten über die Zusammenarbeit, die Entstehung des Buches und welche Begegnungen und Erfahrungen sie dabei machen durften. Beispielsweise sorgte der Ruf der Autorin als „Leutzscher Urgestein“ dafür, dass den beiden von einer Dame verschlossene Türen geöffnet wurden und Peter Hartmann bestimmte Gemälde in einem Haus fotografieren konnte. Bei der Verwendung historischer Fotos und der Einarbeitung ins Buch achtete Peter Hartmann darauf, dass „der Charme des Alten erhalten blieb.“ Beide haben einen unterschiedlichen Blick auf Leutzsch gehabt, „aber, wir haben uns zusammengerauft und es wurde spitze“, fasste Frau Dr. Kirst, die gemeinsame Arbeit zusammen. Ein Eindruck, der auch von Moderatorin Müller bestätigt werden konnte, die das Buch wärmstens empfahl.
Nach einem Vorwort besteht das 136-seitige Buch mit seinen 230 Abbildungen aus drei Teilen, die man mit „Vor dem Zweiten Weltkrieg“, „Im Krieg“ und „Nach dem Krieg bis in die Gegenwart“ umschreiben könnte. Es ist Leutzscher Geschichte seit 1933 und der persönliche Blick auf diese durch die Autorin. Dr. Monika Kirst hat selbst die Kriegszeit in Leutzsch miterlebt. Sie berichtet im Buch von ihrem Wäschekorbbett im Keller und dem durchdringenden Sirenenton, der sie, auch wenn damit später zu DDR-Zeiten die Feuerwehr gerufen wurde, immer noch an die Bombennächte erinnerte. Auch die Erzählung, wie sie als Achtjährige eine Radtour mit dem Vater in der Nachkriegszeit machte, wo beide in den Bauernhöfen der Umgebung erfolglos nach Essen fragten und dann, um die Mutter nicht zu enttäuschen, ihren Sack mit Lindenblüten füllten, sodass es im kommenden Winter wenigstens Tee gab, berührte die Zuhörerschaft.
Siegrid Müller hob den persönlichen Bezug zur Geschichte in ihrer Einschätzung besonders hervor: „Der aktuelle Band ist vom Inhalt historischer als der erste Band, der unser Leutzsch vorstellte. Was diesen Band ausmacht, das ist lebendige Geschichte. Die Autorin hat alles nicht bloß mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen erlebt. Am Ende der Kapitel stellen sich immer auch Fragen zur Gegenwart, damit kommt die Geschichte im Heute an.“
Das Publikum bekam im Laufe der Lesung unter anderem etwas über die Entstehung des Prießnitzbades zu Gehör. Es war bei seiner Entstehung ein Gesundheitsbad und im Jahr 1912 das erste beheizte Freibad Deutschlands. Auch eine Dame aus dem Publikum meldete sich dabei zu Wort und erklärte: „Die Prieße wurde damals von uns nur die ‚Brühe‘ genannt, aber wir gingen da als Kinder gern hin und im Kinderbecken war es auch immer so schön warm, weil da alle reingepullert haben.“ Überhaupt war das Publikum durch die Offenheit am Lesetisch ebenfalls sehr mitteilsam, erzählte von eigenen Leutzscher Erinnerungen, vom Fußball, über die Kneipen entlang der Georg-Schwarz-Straße, den „Wilden Mann“ und von anderen Leutzscher Eigenheiten.
Der Exkurs zum Kaffeehaus „Carola“ weckte ebenfalls Erinnerungen. Zum Schwatzen suchte man sich dort gern eine Sofaecke, auch Jugendweihefeiern fanden dort statt. Sagenhaftes Eis in allen Farben und Torte gab es dort immer. Das Eckhaus Georg-Schwarz-Straße/Sattelhofstraße, am Eingang zum Wasserschloss-Park, in welchem sich das „Café Carola“ befand, hatte auch nach der Wende eine wechselvolle Geschichte. Ein neuer Betreiber versuchte sich daran, das Café als „Brotbüchse“ weiterzuführen, zwischenzeitlich war eine Sparkasse drin, danach die Sportsbar „Abseitsfalle“, mittlerweile steht das Ladengeschoss leer. Im Zuge ihrer Recherchen konnte Frau Dr. Kirst auch eine dunkle Vergangenheit des ehemaligen Kaffeehauses aufdecken. Laut einer Festschrift von 1936 war das Kaffeehaus vor dem Krieg ein beliebter Treffpunkt für die NSDAP-Gruppe in Leutzsch.
Auch das Kapitel über die Leutzscher Spaltung innerhalb der Stadtteilgesellschaft fand viel Anklang. „Da gehörst Du nicht hin!“, hatte ihre Mutter ihr gesagt, als die junge Monika damals im Leutzscher Villenviertel eine Freundin besucht hatte, deren Vater Arzt war. Das untere Leutzsch mit seinem Villenviertel, wo Leute unten wohnen, die oben sind und das obere Leutzsch, entlang der Georg-Schwarz-Straße, das sogenannte Arbeiterleutzsch, trennt auch heute noch scheinbar Welten. Zu DDR-Zeiten hatte diese Klassenmentalität ebenfalls Bestand, wie im Ausgehverhalten deutlich wurde. Da gab es Rivalitäten zwischen dem Jugendclubhaus „Schwarzer Jäger“, wo die Arbeiterjugend und das aufstrebende Bürgertum verkehrten und „Schäfers Ballhaus“, das „die Gäste mit den weißen Handschuhen“, also die Oberschicht, bediente. Beide Lokale gibt es heute übrigens nicht mehr. Die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Leutzsch oben und unten sind geblieben. Für Frau Dr. Kirst hatte das Ganze aber einen persönlichen guten Abschluss, kam doch nach Erscheinen des Buches ihre ehemalige Freundin, die Arzttochter, mit einem Blumenstrauß zu ihr und im Gespräch stellte sich dann heraus, dass es auch die Arztfamilie, trotz des größeren Hauses, nicht viel einfacher in der Zeit hatte.
Wie bei früheren Lesungen so tat sich auch gestern im Stadtteilladen wieder ein neuer Ansatzpunkt für weitere Geschichten auf. Ein Gast, der von der Lesung in der Zeitung erfahren hatte, gab Frau Dr. Kirst zwei Fotos, die ihn als Kind 1955 vor einer Karl-Marx-Büste in Leutzsch zeigen. Ein Karl-Marx-Kopf in Leutzsch, das bietet schon Stoff für neue Recherchen, so dass sich die Leserschaft mittelfristig auch über einen dritten Band freuen kann. Grünes Licht vom Verlag Kolb, in dem die anderen beiden Bücher erschienen sind, gibt es dafür schon. Nach 90 Minuten waren Lesung und Gespräch zu Ende und zum Abschluss steht fest, in Leutzsch war und wird es nie langweilig.
Das Buch „Leutzsch: erlebt, erkundet, zugehört“ 2. Band (Böhlitzer Hefte) von Dr. Monika Kirst ist im Buchhandel zum Preis von 12,90 Euro als Taschenbuch zu erwerben.